Dienstag, 25. Mai 2010

7.2 Juden und Christen

Die vielen Anlässe und Facetten des Themas, meine Neigung zum zusammenfassenden, systematischen Denken und die Einschränkungen, die mir durch mein Alter auferlegt sind, bestimmen die folgende Darlegung.

Ich kann mich mit keiner der Positionen, die in dieser wichtigen Frage vertreten werden, vollkommen identifizieren und bin mir voll bewusst, dass das, was ich sage, eben meine Sicht der Dinge ist, notwendig begrenzt und ergänzungsbedürftig – und durch meine pazifistische Grundhaltung bestimmt.

1. Ich halte daran fest, dass wir als Christen auf die Lektüre der Bibel angewiesen sind und die anstehenden Probleme ohne Auseinandersetzung mit ihren Aussagen nicht lösbar sind.

2. Ich halte auch daran fest, dass das Neue Testament untrennbar mit dem Alten Testament verbunden ist, weil Jesus Jude war und sein Gott der Gott Israels ist.

3. Ich halte auch daran fest, dass wir ein Kriterium zum Verständnis des Alten Testaments brauchen, das ich mit Martin Luther in dem sehe, „was Christum treibt.“

4. Ich gehe über diesen Satz Luthers wohl insofern hinaus, als ich dieses Kriterium auch auf das Neue Testament anwende - und auf die Kirchengeschichte.

5. Daraus ergibt sich die Frage, wer Christus selbst ist, und das Eingeständnis, dass ich Jesus Christus so sehe, wie er existentiell zu mir redet, wie er mich persönlich überzeugt hat. Eine exakte, allgemein gültige Formulierung, wer dieser Jesus Christus in Wahrheit ist, wird es wohl nie geben.

6. Meine Begegnung mit Jesus aus Nazareth ist in der längsten Zeit meines Lebens vor allem durch die synoptischen Evangelien bestimmt worden. Eine erneute Lektüre der Bibel in der feministischen „Bibel in gerechter Sprache“ hat mir nach meinem 80. Lebensjahr noch einmal einen neuen Zugang zu Jesus, dem Christus gebracht.

7. Und zwar dadurch, dass ich die ganze Tora mit den anschließenden sogenannten „Geschichtsbüchern“ gelesen habe , ergänzt durch die Bücher der Chronik am Ende der hebräischen Bibel – sie aber gleichzeitig verglichen habe mit Texten des Neuen Testaments – beginnend mit den sogenannten echten Paulusbriefen.

8. Es wurde mir durch die Lektüre der Paulusbriefe voll bewusst, dass die christliche Kirche vor der schriftlichen Abfassung der Evangelien entstanden ist und zwar durch das Zeugnis der ersten Jünger Jesu, dass der gekreuzigte und auferstandene Jesus aus Nazareth der in den Schriften des Alten Testaments verheißene Messias ist, der Christus. Der jüdische Rabbi Saulus aus Tarsus hat dieser Botschaft zuerst vehement widerstanden und sie nach dem Zusammenbruch seines Widerstandes übernommen. Das bedeutet aber, dass für ihn Jesus nicht nur zum Christus, sondern auch zum Reformator des Judentums geworden ist.

9. Die gleichzeitige, intensive Lektüre der für die gläubigen Juden
wichtigsten Teile ihrer Heiligen Schriften, nämlich der Tora, des Auszugs aus Ägypten, des Einzugs ins Heilige Land, der Errichtung des Königreiches Davids und Salomos , hat mir vor Augen geführt, welch zentrale Rolle für jüdisches Denken die Verheißung des Heiligen Landes spielt.

10. Es ist unbestreitbar dass die Inbesitznahme des Heiligen Landes in der hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, beschrieben wird als Krieg und Vertreibung, Unterwerfung und Vernichtung feindlicher Völker im Auftrag und auf Befehl Gottes. Diese gewaltsame Inbesitznahme wird nirgends oder äußerst selten problematisiert. Für das Denken der Schriftgelehrten, die vor 2500 Jahren diese Schriften verfasst haben, sind diese Kriege und Siege ein Beweis für die Größe ihres Gottes und für seine Überlegenheit über alle Völker.

11. Trotz des Untergangs der Reiche Davids und Salomos, trotz der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und der Wegführung in die babylonische Gefangenschaft wurde die Hoffnung der gläubigen Juden nicht zerstört. Jetzt hoffen sie auf den Messias, den Sohn Davids, der kommen und die Herrlichkeit Zions wieder herstellen wird. Aber sie denken noch immer in „militärischen Kategorien.“ Der Messias wird in der Vollmacht Gottes alle seine Feinde niederschlagen und die endgültige Herrschaft Gottes auf Erden errichten(Psalm 2 und 110).

12. In völligem Gegensatz dazu die gar nicht plausible, sondern eigentlich phantastische und unglaubliche Behauptung des Paulus in Übereinstimmung mit der Gruppe um Jesus, ein Gekreuzigter sei auferstanden von den Toten und dieser Mann ohne militärische Macht sei der wahre Heiland und Retter der Völker, das Heil der Welt.

13. Es ist klar, dass Juden und Nichtjuden, die diese Botschaft hörten, die Frage stellen mussten, wer denn dieser Jesus aus Nazareth eigentlich gewesen sei. So sind 50-80 Jahre nach dem Tod Jesu die Evangelien entstanden, die viel Legendäres, Mythologisches, Symbolisches, Missverständliches und Missverstandenes enthalten – und trotzdem und gerade so den Zugang zu diesem Mann und seiner Bedeutung bis heute vermitteln.

14. Aus den Geschichten der Evangelien gehr klar hervor, dass er den Leidenden aller Art geholfen hat, dass er sich mit Sündern und Geächteten an einen Tisch setzte. Der anstößige und umwälzende Inhalt seiner Worte ist vor allem in der sogenannten Bergpredigt enthalten, in der Jesus die Nächstenliebe aus der Liebe des himmlischen Vaters zu allen Menschen ableitet, die darum auch die Feinde umfasst. Das ist es, „was Christum treibet.“

15. Dies Kriterium muss, wie gesagt, auf die ganze Bibel angewendet werden, auf die Kirche, auf die Geschichte des Christentums. Dann zeigt sich, dass schon das Alte Testament Texte enthält, die dem Geist Jesu entsprechen und das Neue Testament schon wieder Texte, die seinem Geist widersprechen. Und das gilt auch für die entstehende Kirche und erst recht für die zweitausendjährige Kirchengeschichte.

16. Im Alten Testament geht Gott mit seinem Volk Israel sehr häufig ins Gericht. Das Thema Schuld und Vergebung, zu dem dann auch der Bereich Opfer und Sühne gehört, spielt eine große Rolle. Umgekehrt gibt es viel Überheblichkeit und Arroganz bei den Christen, in den Kirchen, im Christentum. Da wird aus einer Position der Selbstgerechtigkeit geredet und gehandelt, als gäbe es bei den Christen keinen Grund zum Schuldbekenntnis und zur Umkehr. Meinen wir vielleicht, Gott hätte keinen Grund zum großen Zorn über das Volk, das sich als neues Bundesvolk, als neues Israel bezeichnet? „Unsere unerkannte Sünde stellst du ins Licht vor deinem Angesicht“. Gilt das etwa nur für den Beter des 90. Psalms?

17. Die in ihrer Tragweite immer noch unerkannte Sünde der Kirche ist in meinen Augen, dass sie sich in solch große Abhängigkeit von den Herren der Welt begeben hat, dass sie deren Machtpolitik faktisch immer mitgetragen hat und heute noch mitträgt. Die Wurzeln dafür finden wir im Neuen Testament vor allem in Römer13, 1-7: „Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat“, einem Text, den ich mit vielen anderen als einen späteren Einschub in den pazifistischen Zusammenhang des echten Paulusbriefes sehe – und weiter in 1. Petrus 2,13-17, einem späten Text im Neuen Testament, wo die Christen abermals zur Unterwerfung unter die weltlichen Herren aufgefordert werden: „Fürchtet Gott, ehrt den König.“ Auf solche Texte berufen sich die Kirchen in allen Jahrhunderten, wenn sie mit der rücksichtslosen Politik weltlicher Herren koalieren.

18. Ein Sprung ins 20.Jahrhundert. Die Verleugnung Jesu Christi ihres Herrn im 1. Weltkrieg, als Christen aus den europäischen Kirchen sich vier Jahre lang gegenseitig umbrachten, wurde in keinem Schuldbekenntnis der deutschen und europäischen Kirchen benannt. Im Jahr 1934 haben sich führende Theologen der Bekennenden Kirche im Barmer Bekenntnis auf 1. Petrus 2,17 berufen und formuliert: „ Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt , in er auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ Auf diesen Text konnten sich Christen eigentlich nicht berufen, denn „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens“ konnten sie ja wohl nicht auf Befehl Adolf Hitlers und seiner Obersten und Statthalter in den mörderischen Krieg ziehen – und haben es doch getan. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis wurde weder die Schoa noch diese Verleugnung des Herrn Christus durch den Gehorsam gegen die falschen Herren beim Namen genannt.

19. Und nun noch zu den Problemen des 21. Jahrhunderts:
Es droht der Kollaps des weltweiten Finanzsystems und mit ihm der Aufstand der Armen dieser Welt gegen die reichen Industrienationen. Es droht deren „Verteidigung“ gegen diesen „Terror“ mit Hilfe ihrer ungeheuren militärischen Übermacht. Es droht die tausendfache Anwendung militärischer Gewalt auf beiden Seiten, die aber nicht mehr wie noch im 1. und 2. Weltkrieg mit einer Kriegserklärung eröffnet und einer Kapitulation oder einem Friedensvertrag beendet wird. Es droht eine Art Weltbürgerkrieg mit unübersehbaren Folgen.

20. Mitten in dieser explosiven Weltsituation gibt es auch den Konflikt um das Heilige Land. Für mich konzentrieren sich die Weltprobleme wie in einem Brennpunkt auf Jerusalem, den heiligen Berg, den Zion.
Dort geht es wieder so zu, wie es in Texten der hebräischen Bibel beschrieben wird: auch wenn sich die Mächtigen in Israel heute nicht darauf berufen, so ist es für mich doch evident, dass sie sich im Verhältnis zu den Palästinensern genau so verhalten wie es einst Josua, David und Salomo mit den Völkerschaften im Heiligen Land getan haben: es werden Kriege um das Heilige Land geführt . Die Sieger sind die Nachkommen Davids, die ihre Feinde, die Einheimischen vertreiben oder unterwerfen, auch töten, freilich nicht ohne die gewaltsame Gegenwehr der Unterdrückten.

21. Dies Urteil ist freilich antisemitisch, antijudaistisch und unerträglich heuchlerisch, wenn wir nur einen Augenblick vergessen, dass wir Christen uns im Bündnis mit den weltlichen Mächten derselben Politik schuldig gemacht haben und schuldig machen. Christen haben in den Religionskriegen, den Kolonialkriegen, den Weltkriegen, zuletzt in der Vernichtung des europäischen Judentums das Unrecht tausendfach überboten, das heute die politischen Führer Israels den Palästinensern antun. Nur wenn wir selbst dem Militärwesen eine klare Absage erteilen, können wir die Juden für den Frieden des Reiches Gottes gewinnen, der in Jes.2/Micha 4 verheißen ist und von dem Messias Jesus in die Welt gebracht wird.

22. Palästinensische Christinnen und Christen haben im Dezember 2009 ihr Wort „Die Stunde der Wahrheit“ veröffentlicht, „Ein Wort des Glaubens und der Hoffnung aus der Mitte des Leidens der Palästinenser.“ Am Schluss dieses Kairos Palästina Dokuments zitieren sie die Verheißung der Propheten Jesaja und Micha, wo es heißt, dass die Völker, die hinauf zum Zion ziehen, ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen und den Krieg nicht mehr lernen.
Mit dieser prophetische Verheißung und ihrer Erfüllung durch Jesus Christus kann ich meine „Theologie“ zusammenfassen. Sie bewegt mich zum Beten und Tun.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen